Die Weltgesundheitsorganisation weiß, wie vielschichtig und brisant die Beschäftigung mit den Themen Macht und Gewalt ist. Denn wenn „man in der Bevölkerung das Bewusstsein dafür weckt, dass sich Gewalt verhüten lässt, hat man allerdings nur einen ersten Schritt auf dem Weg gemacht, der zu einer wirksamen Gegenwehr führen soll. Gewalt ist ein äußerst heikles Problem. Viele Menschen haben in ihrem Beruf Schwierigkeiten, sich dem Gewaltproblem zu stellen, weil es unangenehme, ihr eigenes Privatleben berührende Fragen aufwirft. Wenn man über Gewalt spricht, kann man sich den komplizierten Zusammenhängen von Moral, Ideologie und Kultur nicht entziehen. Deshalb stößt eine offene Debatte über das Thema häufig auf offizielle wie persönliche Widerstände“ (WHO 2003, 3).
Mit der WHO-Stellungnahme wurde die Hoffnung verbunden, die übliche „Geheimniskrämerei“, die „Tabus“ aufzudecken „und das Gefühl der Unvermeidbarkeit“ zu hinterfragen. Dieses Anliegen müsste noch immer auf der Tagesordnung stehen. Gewalt im Umfeld behinderter Kinder, Frauen und Männer existiert. Sie hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte gewandelt, ist versteckter, unsichtbarer geworden und verbindet sich mit subtilen Zwang. Manchmal ist nahezu alles beim Alten geblieben: Sexueller Missbrauch und Grenzverletzungen in Einrichtungen kommen so lange nicht vor, bis sie bekannt werden… Studien belegen übereinstimmend die Häufigkeit der Übergriffe auf jene, die sich nicht wehren (können). Und die verbreitete Pflege in der Familie bedeutet für die behinderten, alten Personen Abhängigkeit und oft Isolation. Verbaler und handgreiflicher Gewalt haben sie wenig entgegen zu setzen, nur interessiert es die Öffentlichkeit wenig.
Das Behindertenbild schwankt in der Wahrnehmung zwischen Superheld und Tragödie, eine Normalität des Unnormalen ist nicht in Sicht. Die Heilpädagogik, die schon im Namen ihren Reparaturwillen preisgibt, entfaltet – bis auf Ausnahmen – einen normalisierenden Charakter, der an den Betroffenen vorbeigeht und sie in Leib und Seele verfolgt. Auch zehn Jahre ratifizierte Behindertenrechtskonvention haben daran wenig geändert, obwohl in der Vereinbarung viel von Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung die Rede ist.